Daniel Díaz Torres

ALICIA EN PUEBLO DE MARAVILLAS

ALICIA AM ORT DER WUNDER

Daniel Díaz Torres, Cuba 1991, 93 Min. Spielfilm, Farbe 35 mm


Filmkritiken:

Interviews:


Auszeichnungen für Kubaner löste im Publikum heftige Kontroversen aus

"Torres läßt in Anlehnung an Lewis Carolls Märchen eine junge Regisseurin per Alptraum in ein abgelegenes Städtchen auf Kuba geraten. Dort ist in den verfallenen Häusern nicht nur die Zeit stehengeblieben, der zivilisatorische Rückstand wird noch einem von einem sozialistischen Aktivismus ergänzt, für den Rationalismus ein Fremdwort ist.

Überall in Maravillas sind Bauarbeiter aktiv, doch auf die Frage der Heldin, was sie eigentlich machen kommt nur die Antwort: »Löcher, Löcher«. Da wird eine 97. Baustelle gefeiert, während ein paar Meter weiter eine Teermaschine ihre Bahnen zieht. Ohne Erfolg, denn die Passanten waten munter durch die schwarze Masse. In ihrem Hotel wird Alicia von Kakerlaken und Affen heimgesucht, im Restaurant sind die Bestecke mit Ketten an den Tischen befestigt, damit sie nicht gestohlen werden.

Das Sanatorium, in dem Alicia mit Patienten arbeiten soll, ist Aufbewahrungsort für Menschen, die mit der kommunistischen Partei in Konflikt gerieten oder Opfer undurchschaubarer Intrigen wurden. Die von Alicia angezettelte Revolte bleibt erfolglos, sie entflieht den korrupten, feigen und gleichgültigen Menschen.

Der Film wirkt nicht nur durch das vielseitige Spiel der Hauptdarstellerin Thais Valdés, die sich von der staunend Distanzierten langsam zu einer Rebellin entwickelt. Selbst die Nebenrollen sind mit viel Sinn für Situationskomik und absurd-groteske Szenen gestaltet. Nicht zuletzt das Verwirrspiel fasziniert den Zuschauer, der hin und hergerissen wird zwischen Märchen- Abenteuer- und Kriminalhandlung."

Christian Schindler: Auszeichnungen für Kubaner löste im Publikum heftige Kontroversen aus. Berlinale - Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges vergaben Friedenspreis.
In: Ärztezeitung 28.2.1991

Ein Kontinent entdeckt seine Identität

"Der Surrealismus bleibt subversiv. Vorbei ist die Zeit, wo ein Wort Che Guevaras (zum Beispiel im Abspann bei Littín) auf kommende bessere Zeiten vertröstete. Als letztes Zeugnis der einmal so vielversprechenden kubanischen Kinematografie erreichte uns ALICIA IM DORF DER WUNDER (1991) von Daniel Díaz Torres. Die Heldin, eine idealistisch eingestellte Kulturarbeiterin, erlebt in dem abgelegenen, gewiß aber typischen Maravillas die Verkehrung der revoltionären Werte in ihr Gegenteil. Dank der Kampagnen sind alle Eigeninitiativen abgestorben. Der Regisseur bringt seinen verängstigten, gebrochenen Figuren Sympathie entgegen, Mitleid vermag er ihnen nicht zu schenken. Am Ende stürzt Alicia den demagogischen Kulturhausleiter in einen Abgrund und deutet so die fälligen Konsequenzen an. Kein Wunder, daß Parteifunktionäre den Film als 'konterrevolutionär' verboten.

Daniel Díaz Torres erreicht jene surrealistische Stilhöhe, die viele klassische Filme aus Lateinamerika auszeichnet und nicht allein auf das Wirken von Luis Buñuel in Mexiko zurückzuführen ist."

Hans-Jörg Rother: Ein Kontinent entdeckt seine Identität - Lateinamerika im Spiegel einer Retrospektive des 'Arsenals'.
In: Film und Fernsehen Nr.6 1992 /Nr1 1993, S.131

Rückblenden auf die Gegenwart.

"Höhepunkt der Filmreihe im Berliner 'Arsenal' waren allerdings ohne Frage die kubanischen Filme: LA MUERTE DE UN BURÓCRATA ("DER TOD EINES BÜROKRATEN", 1966) des großen kubanischen Filmemachers Tomás Gutiérrez Alea, und vor allem die zwei ausverkauften Vorführungen von ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS (ALICIA IM DORF DER WUNDER, 1991) von Daniel Diaz Torres, jener beißenden Filmsatire, die in Kuba zu dem größten Kulturskandal der letzten Jahre geführt hat und bis heute verboten ist.

Ins Auge stach der Kontrast zu den anderen lateinamerikanischen Filmen: Wo jene mit revolutionärem Pathos zum Sturm gegen die herrschenden Verhältnisse bliesen, setzen DER TOD EINES BÜROKRATEN und ALICIA subversiven Humor gegen das revolutionäre Pathos - und die Pathologie - der kubanischen Verhältnisse. Und wo im übrigen Kontinent die Kritik der Gesellschaft im Medium Film über die Jahre an Aggressivität verlor, zeigen die kubanischen Filme das Gegenteil: DER TOD EINES BÜROKRATEN hatte in spitzer Form die Bürokratisierung als gesellschaftlichen Defekt angegriffen. Ein Vierteljahrhundert später ist ALICIA der Zerrspiegel einer ganzen Gesellschaft, die zum Alptraum geworden ist. In dem Film von 1966 war die Nervenheilanstalt, in die der Protagonist nach seinem Kreuzzug durch die Bürokratie schließlich eingewiesen wird, die letzte Instanz, die am Rande der Gesellschaft droht. 1991 ist das 'Dorf der Wunder', in das Alicia gerät, ein einziges Irrenhaus, in dem der Sanatoriumsdirektor es noch als Errungenschaft preist, daß hier alle - Gesunde wie Kranke - gleich behandelt würden. Tötet im Film von Gutiérrez Alea, die Hauptperson, am Ende einen mittleren Bürokraten, so stürzt die verzweifelte Alicia niemand geringeren als den Direktor selbst in die Schlucht.

Indem ALICIA die Probleme und Deformationen der kubanischen Gesellschaft ins Absurde steigert, legt der Film sie in ihren Strukturen bloß. Er erreicht damit eine Schärfe (im doppelten Sinne des Wortes: sowohl Radikalität wie auch Genauigkeit) der Kritik, wie sie in Kuba bislang kein anderes Medium erreicht hat. Sein Verbot machte ALICIA zum Symbolfall für das politische Tauziehen um die Freiräume der Kultur und der Meinungsfreiheit auf der sozialistischen Insel. Bislang siegt die Macht: Der Direktor des Filminstituts, Julio Garcia Espinosa, wurde geschaßt, weil er ALICIA nicht verhindert hatte, der Film wurde aus dem Verkehr gezogen.

Da das Verbot von ALICIA auch für Vorführungen im Ausland gilt, war es eine mittlere Sensation, daß der Film nun zum ersten Mal seit seinem Verbot wieder in Deutschland gezeigt werden durfte - wenn auch nur für zwei Tage. Es seien dies erste 'Schritte im Prozeß einer Normalisierung' im Umgang mit dem Film, so die Hoffnung von Regisseur Daniel Díaz. An deren Ende müsse natürlich stehen, so Díaz, daß der Film ganz normal wie jeder andere in kubanischen Kinos zu sehen sei."

Bert Hoffmann: Rückblenden auf die Gegenwart.
What's left im lateinamerikanischen Film? Gegenüberstellungen aus einem Vierteljahrhundert.
In: Die Tageszeitung, 4.12.1992


Filme gegen die Trägheit der Revolution.

"Der Film ALICIA ... allerdings entstand in einem Kontext, in dem der 'revolutionäre Impuls', den früher die Politik für sich beansprucht hatte, nun in Widerspruch zu einer stillschweigend praktizierten 'neuen' Politik der 'revolutionären Trägheit' geriet. Eine Anekdote mag dies illustrieren: Auf einer Pressekonferenz während des 13. Festivals des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna im Dezember 1991 verteidigte Daniel Díaz Torres ALICIA ... , indem er auf dem revolutionären Charakter des Films bestand. Dabei unterstrich er offenkundig nicht den semantischen Gehalt des Wortes 'revolutionär', sondern seinen in Kuba gängigen Gebrauch in dem Sinne: 'was der Revolution treu ist' (in der Praxis: 'was der Kommunistischen Partei treu ist', sprich: 'was Fidel treu ist') - und dies hat mehr mit Trägheit zu tun als mit einem Impuls. Doch der Grund, warum ALICIA EN EL EL PUEBLO DE MARAVILLAS revolutionär im eigentlichen Sinne des Wortes ist, liegt im Überleben - auch im heutigen Kontext - jener Haltung, die gleichermaßen den Volksaufstand von 1959 wie die Entwicklung des ICAIC möglich machte: eine kritische Haltung, progressiv, erneuernd, entmystifizieren, häretisch ... Die Konsequenzen, die die Wandlungen der Politik bei gleichbleibendem ideologischen Vorzeichen für die Kunst haben, erinnern an die traurigen Lektionen der Sowjetunion, wo - im Namen der 'Treue zur Sache' - das gesellschaftliche Engagement von Filmschaffenden wie Sergej Eisenstein oder Dsiga Wertov schrittweise unterminiert wurde. Es sollte nie vergessen werden, daß nur derjenige einer Sache oder einer Person treu sein kann, der sich selbst treu bleibt. (...)

Der Film ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS wurde in Kuba zum 'Fall'. Die Geschehnisse während der wenigen Tage, die der Film im Kino gezeigt wurde, sowie die schmähenden Kritiken der Medien (von jenen, die die 'Erlaubnis' dazu hatten), erinnert mich an eine Anekdote, die Buñuel in 'Mi último supiro' (Mein letzter Seufzer) erzählt. Dabei geht es um eine Nachricht, die die anarchistische Zeitschrift 'El Motín' in den 20er Jahren über eine Demonstration in Madrid schrieb, bei der Arbeiter gewaltsam mehrere Priester angriffen, dabei Passanten verletzten und Schaufensterscheiben zerschlugen. Die Nachricht begann folgendermaßen: »Gestern nachmittag ging eine Gruppe von Arbeitern ruhig die Straße Montera hinauf, als ihnen auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig zwei Priester entgegenkamen. Angesichts dieser Provokation...« Alicia, eine junge Theaterberaterin, entschließt sich, den zweijährigen sozialen Dienst nach ihrer Ausbildung in dem abgelegenen Dorf Maravillas zu erfüllen. In Maravillas stellt sie dann fest, daß sie die einzige ist, die freiwillig dort lebt. Alle anderen Bewohner des Ortes sind 'Tronados', wegen Verfehlungen aus ihren Ämtern entlassene Personen, die in dieser Hölle ihre Schuld sühnen sollen. Die höchste Autorität von Maravillas ist der Direktor eines Sanatoriums, in dem 'Sprudelwasser' hergestellt wird, mit dem die Neuankömmlinge gefügig gemacht werden. Weil sie sich weigert, den Formalismus, den Opportunismus und die herrschende Heuchelei anzuerkennen, beginnt Alicia, alles zu kritisieren. Daraufhin wird sie im Sanatorium eingesperrt. Mit der Hilfe von Kindern befreit ein Freund sie und ermöglicht ihr am nächsten Tag die Flucht aus Maravillas. Als sie danach in einem nahegelegenen Ort im Busbahnhof sitzt, bringt ihr eine Serviererin eben jenes 'Sprudelwasser' ...

Entgegen der Argumentation fast aller Angriffe auf den Film, versucht ALICIA ... nichts zu konstruieren; der Film versucht lediglich, etwas zu zeigen. Was der Zuschauer am Ende glaubt, ergibt sich aus den Bedeutungen, die er selbst in dem Gesehenen erkennt. Wen beleidigt der Film, wenn er in farcenhafter Form die Probleme der Gesellschaft offenlegt. Nur denjenigen, der meint, daß er die Schuld an der Existenz der Probleme trägt und der durch ihre Offenlegung seine Macht gebrochen sieht, sie dem Urteil der Öffentlichkeit zu entziehen. Diejenigen, die den Film so vehement als 'konterrevolutionär' abstempelten, haben damit im Grunde nur ihre Gleichgültigkeit gegenüber diesen Phänomenen oder ihre direkte Verantwortung für ihre Ursachen zu erkennen gegeben. Um diese Apathie oder das entsprechende Schuldgefühl zu verhüllen, haben sie ALICIA ... das hilfreiche Etikett 'konterrevolutionär' angeheftet - ein Argument der Anklage von erprobter politischer Effektivität, jeoch nicht von künstlerischer. Wenn gesagt wird, der Film sei schädlich, weil er sich im Negativen festsetzt, dann bekräftigt dies automatisch die Existenz des Negativen. Gewöhnlich wird dieser Einwand begleitet von dem Ratschlag, das Werk durch mehr positive Elemente ausgeglichener zu gestalten. Im Klartext: Man empfiehlt der Filmproduktion, die gleichen Manöver zu verwenden wie sie offenkundig die Propaganda benutzt, um die Realität hinter einer Maske zu verstecken - als ob die Maske selbst schon eine Lösung der Probleme wäre und nicht eine betrügerische Operation, um sie verborgen zu halten. Gerade indem er sich auf dieses Negative konzentriert, es lächerlich macht und zur Parabel erhebt, schafft der Film im Betrachter die notwendige Distanz, um sich am Ende weder mit ohnmächtigem Lamentieren noch mit sterilem Lachen zu bescheiden, sondern vielmehr bewußt zu reagieren.

ALICIA ... hinterläßt im Betrachter vor allem eine herausfordernde Anklage. Ein Forderung nach einem Engagement, das die kritische Haltung wiederbelebt gegen den Konformismus gegenüber Apathie und Trägheit. (Vielleicht erklärt dies, warum ein bestimmter Teil des Publikums mit wütenden Beschimpfungen auf den Film reagierte: Exorzismus statt Auseinandersetzung.) Auch wenn ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS in keinster Weise dem sozialistischen Realismus verbunden ist, so war dieser Bezug jedoch in den Verisssen über ihn nicht zu übersehen. Jede Person oder Personengruppe wurde als Abbild all seiner Entsprechungen in der kubanischen Gesellschaft interpretiert: die Pioniere des Films als die kubanischen Pioniere, der Direktor des Sanatoriums als die kubanische Staatsführung undsoweiter. (Apropos: Es ist mir nicht bekannt: daß die Kirche auch nur ein einziges Mal gegen die Darstellung des kauzigen Priesters protestiert hätte, offensichtlich hat sie in ihm nicht alle kubanischen Priester wiedererkannt.) Die pseudokritischen Schmähungen lassen sich zusammenfassen in dem verzweifelten Ruf nach dem sozialistischen Helden: untadelig, mutig, fleißig, diszipliniert; glücklich 'in einer besseren Welt' zu leben und an der 'Erschaffung des Neuen Menschen' mitzuwirken. Eine solche Übung der Schematisierung ist jedoch nicht nur das Gegenteil von Filmkunst, sie ist schizophren. Indem ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS das Absurde ausreizt, ist der Film ein weiteres Stoßgebet an die Vernunft und gegen Entfremdung."

José Antonio Evora Filme gegen die Trägheit der Revolution.
Haltung und Kontext im kubanischen Spielfilm von 1975 bis 1991.
In: Film und Fernsehen Nr.6/1992 - Nr.1/1993, S.113-122
(Übersetzung und Bearbeitung: Bert Hoffmann)

Das Leben ein Alptraum

Interview mit Daniel Díaz Torres von Rita Nierich und Peter B. Schumann

Frage: "Es liegt nicht unbedingt auf der Hand, einen kubanischen Spielfilm nach der Erzählstruktur von ALICE IM WUNDERLAND zu drehen, noch dazu einen Film, der sich kritisch mit den gegenwärtigen Verhältnissen auseinandersetzt. Wie kamst Du auf diese Idee?"

Torres: "Der Roman von Caroll hat mich schon immer begeistert wegen seines Sinnes für Humor, und weil das Absurde eine ganze Reihe von Subtexten ermöglicht. Hinter der eigentlich unschuldigen Kindererzählung stecken vielfältige Anspielungen, und genau die haben mich interessiert.

Das Drehbuch zum Film ist in der Zusammenarbeit mehrerer junger Satiriker entstanden, die sonst für die humoristische Zeitschrift 'DDT' hier in Kuba schrieben. Wir fanden das Absurde spannend, weil es da ein Auseinanderdriften gibt, ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was irgendwie heilig ist, und dem konkreten Alltagsleben, das nicht mehr so funktioniert; ein Auseinanderdriften zwischen dem, was öffentlich verkündet wird, und dem was eigentlich fast die Umkehr dessen ist, was verkündet wird. Das Absurde ist ja in unserem Alltag gegenwärtig. Manchmal ist so evident, manchmal stellt es etwas Eingeschliffenes und Gewohnheitsmäßiges dar, das längst verinnerlicht ist.

Diese Linie exitiert auch innerhalb des Romans, und deshalb paßte es sehr gut in unsere Filmkonzept. Unser Konzept umfaßte folgende Ansätze: Humor mit einem speziell absurden Element, manchmal auch schwarzer Humor, bis hin zur Verwendung gewisser Muster des herkömmliche Genrekinos wie des Horrorfilms oder gar einige narrative Elemente des Kinos der 30er und 40er Jahre sowie eine ganze Reihe filmischer Mittel wie z.B. Rückblenden etc..

Diese Art ernstgemeinter Scherz, den wir in unserem Film anstreben, war mit Form und Stil der scheinbarern Kindergeschichte von Caroll sehr gut vereinbar. Vor allem sollte der Film in Sprache und Handlungsablauf keinen zu unmittelbar politischen Ton anschlagen. Warum? Unser Interesse an einer in sich stimmigen künstlerischen Aussage, an der uns sehr gelegen war, wollten wir nicht einer zu großen politischen Direktheit opfern, denn das hätte die Breitenwirkung des Films beeinträchtigt. Eines unserer Ziele bestand darin, eine Art 'Para'Realität zu schaffen, voller Anspielungen auf unsere Wirklichkeit, die aber nicht zu eindeutig mit bestimmten Ereignissen in Verbindung gebracht werden sollen. Es gibt eine gewisse vereinfachende Kritik, die ich bei einigen Filmen beispielweise aus sozialistischen Ländern beobachten konnte. Dort beschränkt sich die Kritik auf die schlechten Dienstleistungen, auf eine Reihe äußerlicher Aspekte. Was uns dagegen interessiert, waren bestimmte menschliche Verhaltensweisen, ein gewisser Verlust an Mitwirkung des Einzelnen in der Gesellschaft, ich würde sogar von einer gewissen Herabwürdigung desjenigen sprehen, der sich persönlich engagieren will. Bei Billigung einer falschen Einmütigkeit verliert der Einzelne die Fähigkeit, zu handeln, zu kämpfen und bereit zu sein, das Leben selbst zu gestalten und eine gesellschaftliche Aufgabe zu übernehmen. Die Entwicklung dahin vollzog sich unbemerkt, weil man sich an das Absurde gewöhnte. Niemand fühlt sich fähig und stark genug, aktiv einzugreifen.

Dieser Stand der Dinge, der für mich einen bedeutenden ethischen Hintergund hat, sollte in unserem Film behandelt werden, nicht zu direkt, sondern mit den Mitteln des Humors und sogar mit den Mitteln des Phantastischen, dieses gleichzeitig imaginären und doch sehr realen Ortes. Dadurch sollte eine Reihe von Überlegungen einfließen, die alle gesellschaftlichen Bereiche und menschlichen Verhaltensweisen unter ganz besonderen Umständen behandeln.

Wir wollten die Notwendigkeit des aktiven Mitwirken herausstellen, mit dem Ziel, daß man seine Möglichkeiten wahrnimmt, als Einzelner aktiv in der Gesellschaft zu sein und sich nicht entmutigen zu lassen. Und das unter Bedingungen, die manche dazu verleiten, eine eher pessimistische Position einzunehmen oder sich vielleicht auf eine relativ zynische bzw. nihilistische Haltung zurückzuziehen, die sich zerstörerisch auswirken kann. Für uns war es wichtig, daß der Film keine Zugeständnissse macht; aber wir wollten die Einstellung verteidigen, die wir positiv fanden. Das betrifft vornehmlich den ethischen Bereich, d.h. einige Charkaterzüge des menschlichen Wesens, die nicht unter den Begriff 'Herdentrieb' fallen. Ein Ideal und bestimmte Prinzipien zu teilen, darf nicht zum Verlust eigener Wertvorstellungen und dadurch zu einer Art Herdenverhalten führen. Ich denke, das ist das Verhängnisvolle, das Schlimmste, was in einer Gesellschaft geschehen werden kann. Heute ist von viel Leerlauf die Rede, von politischen Entwicklungen, die auf die eine oder andere Weise an einen toten Punkt gelangt sind und eine Art Neurose hervorgerufen haben. Das ist etwas wirklich Beunruhigendes. Ich denke, es ist für das Individuum wichtig, daß es wirklich und nicht nur formell am gesellschaftlichen Leben mitwirken kann und zwar mit seinen eigenen Maßstäben und Ansichten, die auch widersprüchlich sein und von anderen in Frage gestellt werden können, aber keinesfalls übergangen werden dürfen.

Ich denke, das Schlimmste ist vielleicht die Selbstunterdrückung, das Gefühl der Selbstausgrenzung, zu fühlen, daß deine Mitwirkung unbedeutend ist, oder daß man nicht genug Ansehen besitzt, um gehört zu werden. Ich glaube, wenn so ein Gefühl aufkommt, dann ist Alarm nötig, denn ich denke, dann kann die Gesellschaft nicht mehr aktiv funktionieren.

Das alles sollte im Film gezeigt werden und zwar nicht tief philosophisch. Wir wollten ihn nicht überfrachten mit schwerfälligen Begriffen und Symbolen und ihn auch nicht in seiner Aussage auf Kuba begrenzen. Unser Ziel war es, durch Humor und die Verwendung einer bestimmten Sprache, die im Film selbst ironisch gebraucht wird, eine bessere Kommunikation für diese Überlegungen zu schaffen."

Frage: "Du hast zuvor einen Film mit dem Titel OTRA MUJER gedreht, einen sehr realistischen Film, der aber auch kritisch ist in Bezug auf verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens, vor allem das Verhältnisses zwischen Mann und Frau. Vier Jahre später hast Du nun einen so ganz anderen Film gemacht, voller Methaphern und Parabeln, mit viel Humor und vielen unterschiedlichen Lesearten. Ist dieser Film ein Ergebnis der neuen Struktur, der Aufteilung in Arbeitsgruppen innerhalb des ICAIC? Oder ist sie eher das Ergebnis gesellschaftlicher Situation, die sich heute wesentlich angespannter und komplizierte darstellt als noch vor wenigen Jahren, d.h. auch ein Ergebnis eines tiefgehenden Dialogs in diesem Land?"

Torres: "Das hängt alles in gewisser Weise mit diesem Film zusammen, aber auch mit meiner persönlichen Entwicklung. Das ist wirklich der Film, mit dem ich richtig zufrieden bin. Denn ich spüre, er hat mehr damit zu tun, wie ich mich der Wirklichkeit nähere und versuche, sie künsterisch umzusetzen. Ich habe mich sehr wohl gefühlt bei der gemeinsamen Ausarbeitung des Drehbuchs. Der Schriftsteller Jesús Díaz hat mit uns zusammengearbeitet, und ich denke, er fühte sich dieser Sicht der Wirklichkeit sehr verbunden, die die jungen Leute von der Gruppe Nos-y-otros vertraten.

Ich denke, auch mein nächstes Projekt wird einen gleichen Grundcharakter besitzen, sagen wir einmal, einen Stil, der nicht sehr weit von dem Stil entfernt ist, der in diesem Film entwickelt wurde. Handlung, Figuren und eine Reihe anderer Elemente werden anders sein, nicht aber gewisse Stileigenheiten, die Art, unsere Wirklichkeit filmisch wiederzugeben.

Selbstverständlich hat auch die breitgefächerte Diskussion innerhalb der Arbeitsgruppe das Projekt positiv beeinflußt. Unsere kritische Analyse innerhalb der kubanischen Gesellschaft hat das Klima für die Realisierung des Film gegeben.

Der Film sollte kein zu unmittelbares, zu ortgebundenes Projekt werden, nicht wie eine Nachrichtensendung über die letzte Woche. Dies Idee zu diesem Film verfolge ich nun seit zweieinhalb Jahren. Vor zwei Jahren gab es den ersten Drehbuchentwurf, der der Entfassung des Films ziehmlich nahekommt. Schon damals wollten wir die Ereignisse nicht so wiedergeben., wie sie sich abspielten. Wir wollten, daß die aufgeworfenen Fragen mehr mit den Haltungen und Problemen des Einzelnen zu tun haben und über das Tagesgeschehen weit hinausgehen. Deshalb habe ich versucht, mich möglichst nicht durch das aktuelle Geschehen beeinflussen zu lassen, auch wenn jeder in einem gesellschaftlichen Zusammenhang lebt, aus dem er sich nicht ohne weiteres lösen kann."

zit. n. 21. Internationales Forum des Jungen Films Berlin 1991, Informationsblatt 58

Last update: 18.1.2016

Graphik: Uwe Krupka

Daniel Díaz Torres